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Brauchen wir eine Pflegekammer?

Argumente für und gegen eine Pflegekammer

1. Überblick über die aktuelle Situation

In der Pressemitteilung vom 29.02.2024 des Errichtungsausschuss der Landespflegekammer von Baden-Württemberg wurde veröffentlicht, dass die Gründung einer Landespflegekammer nicht erfolgreich war. Das Quorum von 60% Zustimmung von 110.000 Fachpflegekräften wurde knapp verfehlt. Denn 50% der Pflegenden widersprachen der Gründung einer Pflegekammer. Laut der Verlautbarung des Gründungsausschusses für eine Landespflegekammer Baden-Württemberg vom 22.03.2024 wird jetzt eine „Einzelfallprüfung“ der Einwendungen durchgeführt. Der ursprüngliche Termin, 25.03.2024, für die offizielle Bekanntgabe des Ergebnisses der Abstimmung verzögert sich dadurch.

Die Gründe des Scheiterns sind wie bei den Gründungsversuchen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen ähnlich. Die Zeit von der Initiation der Gründung durch das Sozialministeriums des Bundeslandes bis zur Umfrage betrug nur 18 Monate. Die Arbeit des Errichtungsausschusses wurde ehrenamtlich geleistet. Die Gewerkschaft Verdi machte Propaganda gegen die Gründung, weil sie eine Pflegekammer als Konkurrenz sieht, obwohl die Aufgabenbereiche verschieden sind. Auch die privaten Anbieter von Pflegeeinrichtungen unterstützten die Gründung nicht.

Von den 16 Bundesländern in der BRD sind nur in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen funktionierende Pflegekammern eingerichtet. Die Bayerische Staatsregierung unter der damaligen Gesundheitsministerin Melanie Huml gründete 2017 die „Vereinigung Pflegende in Bayern“. Sie soll vergleichbar einer Pflegekammer die beruflichen Interessen für 200.000 Pflegende in Bayern vertreten. Obwohl die Mitgliedschaft freiwillig und beitragsfrei ist, hatte sie – Stand 2021- nicht mehr als 2.200 Mitglieder. Die Leitung der Vereinigung arbeitet ehrenamtlich. Von den Vertretern der bestehenden Pflegekammern wird die Vereinigung als Selbstverwaltungsorgan der Pflege nicht anerkannt, da sie laut der Kritiker abhängig ist von der Bayerischen Staatsregierung.

Es existiert seit 2021 eine Bundespflegekammer, die die über 1,7 Millionen Fachpflegekräfte vertreten könnte. Sie ist aber wegen der geringen Anzahl von zwei Landespflegekammern für die Gesundheitspolitik bisher bedeutungslos.

2. Aufgaben/Beschreibung einer Pflegekammer

Eine Pflegekammer ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts in Selbstverwaltung, Sie setzt sich für eine fachgerechte Pflege ein, die sich an den neuesten pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert. In der Berufsordnung definiert sie die Rechte und Pflichten der Pflegenden und hat somit die Berufsaufsicht inne. Ihr obliegt der Schutz der Bevölkerung vor unsachgemäßer Pflege. Durch Grundlagenerarbeitung von Fort- und Weiterbildungen soll sie den Pflegeberuf als Profession weiter entwickeln.

Die Mitgliedschaft für registrierte Mitglieder ist Pflicht. Sie zahlen einen monatlichen Beitrag von zirka 5 € bis 10 €.

3. Argumente für eine Pflegekammer

3.1. Mitspracherecht im Gesundheitswesen

Für den seit vielen Jahren anhaltenden Pflegenotstand, der sich laut statistischen Prognosen – bis 2030 werden 500.000 Pflegepersonen fehlen – drastisch verschärfen wird, ist eine Ursache unter anderen die fehlende konkrete Wertschätzung in Gesellschaft und Politik. Sie zeigt sich insbesondere darin, dass der Pflege kein Mitspracherecht in den diesbezüglichen Entscheidungsgremien des Gesundheitswesen zu gestanden wird.

Der G-BA (gemeinsamer Bundesausschuss) ist das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und hat laut politisch engagierten Pflegewissenschaftlern die größte Macht im Gesundheitswesen inne. Er regelt die Leistungsansprüche der Versicherten, entscheidet über die Vergütung der Leistungserbringer und gibt vor, wie die vom Parlament erlassenen Gesetze ausgeführt werden sollen. Seine Mitglieder sind die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV), die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV- Spitzenverband). Die Kassenärztlichen Vereinigungen vertreten indirekt die Ärztekammern.

Für die Pflege ist der Pflegerat das Sprachrohr im G-BA allerdings ohne Stimm- und Antragsrecht. Der Pflegerat besteht aus dem Zusammenschluss von verschiedenen Pflegeverbänden. Er hat nur beratende Funktion und arbeitet ehrenamtlich in einem der neun Unterausschüsse des B-GA mit. Der Pflegeberuf ist mit 46% der im Gesundheitswesen arbeitenden Personen die größte Berufsgruppe. Dagegen hat die Ärzteschaft einen Anteil von 12,4%.

Die anderen 24 Heilberufe wie Physiotherapeuten, Heilpraktiker usw. sind nicht Mitglied im G-BA.

3.2. Qualitätssicherung der Pflegeleistungen

Einer der Hauptaufgaben der Pflegekammer ist der Schutz der Bevölkerung vor unsachgemäßer Pflege. Deshalb erarbeitet sie Richtlinien für eine fachgerechte pflegerische Versorgung der Pflegebedürftigen. Durch die Vereinheitlichung von Pflegeregeln ist die Erbringung der Leistung überprüfbar und gibt den Pflegenden Orientierung. Die unterschiedlichen Standards von Fort- und Weiterbildungen in den Bundesländern werden harmonisiert.

3.3. Autorisierter Ansprechpartner für andere Berufsgruppen

Ärztekammerpräsidenten, wie zum Beispiel Henrik Herrmann aus Schleswig-Holstein, begrüßen die Existenz einer Pflegekammer mit den Worten: „wir haben in der Pflege endlich einen mandatierten – sprich einen offiziellen politisch legitimierten Ansprechpartner“.

Der Pflegeberuf bekommt mehr Gewicht und Gehör in Medien und in der Gesellschaft, da die Kammer auf Fragen und Probleme mit „einer“ Stimme sprechen kann.

4. Argumente gegen die Gründung einer Pflegekammer

4.1. Leichte Beeinflussung und Manipulation durch Lobbyverbände oder Regierung

Die Haltung der Ärztekammern in der Corona-Krise hat gezeigt, wie die Kammern sich an das Narrativ der Regierung angepasst und es sogar gefördert haben. Die Ärzte, die gegen die Coronaschutzmaßnahmen verstoßen haben, wurden mit Hinweis auf die Berufsordnung sanktioniert ohne Prüfung anderer wissenschaftlicher Meinungen. Diese Gefahr, kritikloses Ausführungsorgan der Politik zu sein, ist natürlicherweise auch bei einer Pflegekammer gegeben, da die Kammerstruktur ähnlich der der Ärztekammern ist.

Eine Pflegekammer kann versteckt oder öffentlich als Werbeplattform für Pflegehilfsmittel und Pflegemittel benutzt werden. Es kann für Lobbyisten noch lukrativer werden, Einfluss zu gewinnen, wenn das neue Pflegekompetenzgesetz (siehe vorläufiges Eckpunktepapier von 19.12.2023) in Kraft tritt. Es erlaubt dann, dass außer Verordnung von Pflegehilfsmittel und Pflegemittel auch ärztliche Aufgaben unter besonderen Voraussetzungen von Pflegenden übernommen werden dürfen wie Übernahme von Wundversorgung (was eigentlich schon meist üblich ist) und Verordnung von bestimmten Arzneimitteln.

4.2. Unnötige Qualitätssicherungsinstitution

Neben anderen Argumenten gegen eine Pflegekammer führt die Gewerkschaft Verdi an, dass eine Pflegekammer unnötig ist und nur die Bürokratie im Gesundheitswesen fördert. 95% der Pflegekräfte sind angestellt. Die Arbeitgeber haben die Aufgabe und die Verantwortung durch Delegation wie zum Beispiel Qualitätssicherungsbeauftragten die Leistung der Pflegenden zu überwachen und Strukturen zu schaffen, die eine fachgerechte Pflege ermöglichen. Außerdem überwacht auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) die Qualität der Pflege.

4.3. Pflichtmitgliedschaft und Pflichtmitgliedsbeitrag

Wie schon oben beschrieben, haben die Pflegekräfte die Möglichkeit der Gründung einer Pflegekammer zu widersprechen. Die Arbeitgeber werden beauftragt, die Befragung an ihre Mitarbeiter weiter zu leiten. Wenn ein bestimmtes Quorum erreicht ist, dann wird für alle Pflegenden auch für diejenigen, die nicht zustimmen, die Mitgliedschaft zur Pflicht. Dieser Zwang ist in einer demokratischen Gesellschaft in Frage zu stellen.

5. Ausblick

Das Thema „Pflegekammer“ zeigt auf, dass eine Reform des Gesundheitswesen dringend erforderlich ist. Es ist nötig darauf hin zu arbeiten, dass alle 26 Heilberufe ein Mitspracherecht in der Gesundheitspolitik bekommen und dadurch die nötige Anerkennung im Gesundheitswesen erfahren. Der IVfG als interdisziplinärer Verband für Gesundheitsberufe hat die Möglichkeit seinen Beitrag dazu zu leisten.

Quellen:

https://www.pflegekammer-bw.de/wp-content/uploads/2022/08/pm-verschiebung.pdf

https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/gesundheit-pflege/pflege/pflegekammer-in-baden-wuerttemberg/aufgaben-einer-pflegekammer/

https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-sozialpolitik-vereinigung-pflegende-erfolg-1.5251070

https://www.vdpb-bayern.de/

https://www.youtube.com/watch?v=EZlTTe37WsA
Video über Gesundheitspolitik, über Macht und Zusammensetzung von G- BA

https://www.pflegen-online.de/warum-aerztepraesident-herrmann-pflegekammern-gut-findet

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/200629_BMG_Das_deutsche_Gesundheitssystem_DE.pdf

https://www.pflegekammer-bw.de/wp-content/uploads/2022/08/pm-quorum.pdf

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflegekompetenzreform/Kurzpapier_Vorlaeufige_Eckpunkte_PflegekompetenzG.pdf

https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2020/corona-stellungnahme-CovidGesetzNRW-AEKWL-AekNo.pdf

https://www.aerzteblatt.de/archiv/218074/COVID-19-Verstoesse-gegen-das-Berufsrecht

https://gesundheit-soziales-bildung-bawue.verdi.de/++file++64074d2a24a4875d8b2df30f/download/230201_Stellungnahme_ver.di-DGB_Gesetzentwurf-Errichtung-Pflegekammer.pdf

https://www.g-ba.de/ueber-den-gba/wer-wir-sind/mitglieder/

„Der Pflege -Tsunami“, Monja Schünemann, Edelverlagsgruppe

„Existenz-relevant!“, Birgit Ehrenfels, Annemarie Fajardo, Kohlhammer Verlag